Wenn Reimar de la Chevallerie übers Gendern spricht, scheint es, als könne er kein Ende finden. Denn für ihn gibt es keinen nachvollziehbaren Grund, die erweiterte Anredeform nicht zu nutzen. Die Überlegung, dass man durch das Gendern Texte unnötig verkompliziere, stößt bei ihm auf Unverständnis. Auf die Gleichbehandlung der Geschlechter will er auf keinen Fall verzichten. Mit klaren Überzeugungen wie dieser bringt er sich ein in die Göttinger freie Theaterszene im „Boat People Projekt“.
Nina de la Chevallerie und Luise Rist haben das Projekt 2009 begründet und das Stück „Lampedusa“ auf die „Bühne“ – in diesem Fall in einem Linienbus – gebracht. Anlass war die Situation der Geflüchteten aus Afrika auf der italienischen Insel. Zwischen Juli 2008 und Juli 2009 erreichten mehr als 20.000 Menschen aus Nordafrika Lampedusa. Die rigide Abschiebepolitik der damaligen Regierung von Silvio Berlusconi ließ die Zahlen stark zurückgehen – bevor sie im „Arabischen Frühling" wieder stiegen.
Wie schon in „Lampedusa“ stellten Regisseurin de la Chevallerie und Autorin und Dramaturgin Rist auch im folgenden Stück „Keinsternhotel“ (2010) Geflüchtete ins Zentrum. Immer stärker rückten sie in den Vordergrund, dass die Menschen aus dem Sudan, aus Äthiopien, Eritrea, Ghana und aus dem Kongo mit Schauspieler:innen und weiterem professionellem Bühnenpersonal für Bühne, Video, Musik und mehr – ein Ensemble bilden können.
Ein Teil des Konzepts: Nur mit den Menschen, die das Erzählte erlebt hätten, zusammen mit professionellen Künstlern, könne man Geschichten der Geflüchteten erzählen.
Die Relevanz vieler Themen sei nicht selten direkt den Probenprozess eingeschlagen, erzählt Birte Müchler, unter anderem zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit. In einer Produktion zum Beispiel sei einer der Mitwirkenden abgeschoben werden. Neben der menschlichen Katastrophe musste auch die Gruppe damit umgehen, dass nun einer der Darsteller:innen fehlte. Die „Expert:innen des Alltags“ seien wichtig, um ihre Geschichten authentisch zu erzählen, sagt Müchler und erklärt so einen Teil des Konzepts: Nur mit den Menschen, die erlebt hätten, wovon erzählt wird, zusammen mit professionellen Künstler:innen, könne man Geschichten der Geflüchteten realitätsnah wiedergeben.
Als 2015 der große Zustrom von schutzsuchenden Menschen begann – die Mehrheit floh wegen des Bürgerkriegs aus Syrien – habe sich die Situation für das Boat People Projekt verändert, sagt Müchler. Unter den Geflüchteten seien nun auch Schauspieler:innen gewesen. Viele von ihnen hatten das Handwerk am Institut für Darstellende Künste in Damaskus gelernt. Nach der Flucht stießen sie zum Boat People Projekt. Das habe den Blickwinkel verändert, schildert Müchler. Die Situation der Geflüchteten sei in den Hintergrund gerückt. Auch andere Themen wurden wieder wichtig. So stellt die Theatergruppe nun auch ihren Namen zur Diskussion.
Und noch etwas veränderte sich: Soziokulturelle Projekte wurden aufgenommen. Für Heranwachsende ab 16 Jahren gründete das Projekt eine eigene Gruppe – für junge Leute, die in der Region in und um Göttingen groß geworden sind sowie für Zuzügler:innen aus anderen Welten, Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen. Mit „Flutlicht“ brachten Jugendliche aus Somalia, Afghanistan, Syrien, Eritrea und Göttingen 2015 einen Liederabend auf die Bühne – in dieser Produktion passierte es, dass eine der Darstellerinnen während der Proben in den Kosovo abgeschoben wurde.
Weitere soziokulturelle Projekte sind Workshops in den Göttinger Schulen oder Ferienclubs, in denen die Heranwachsenden beispielsweise lernen, einen eigenen Film zu drehen. Mit regelmäßigen Angeboten ist das Boat People Projekt mit seinem Standort in der Stresemannstraße auch in seiner nahen Umgebung, dem sozialen Brennpunkt in der Weststadt aktiv. Birte Müchlers Wunsch ist es, nachhaltige Angebote zu machen. Für Kinder und Jugendliche sei es sehr wichtig, dass sie fortlaufende kulturelle Angebote erhielten. Besonders am Herzen liegen Müchler die gesellschaftlich benachteiligten Teenies in der Weststadt.
Was den Standort betrifft, ist die Theatergruppe mit derzeit sieben Mitwirkenden im Kernteam und einem Kreis von insgesamt rund 50 Aktiven, in Bewegung. Von der ersten Produktion in einem Linienbus kam 2015 der Einzug ins ehemalige Institut für den Wissenschaftlichen Film (IWF), wo von 2015 bis 2018 auch geflüchtete Menschen eine Unterkunft fanden. Seit drei Jahren hat das Projekt sein Domizil im Werkraum in der Stresemannstraße und versucht, den Raum auch für andere nutzbar zu machen.
„Wir haben mitten in deren Wohnzimmer geprobt“, beschreibt Birte Müchler die Situation mit den Geflüchteten im IWF. Mit ihnen teilten die Mitwirkenden bei den Proben im ehemaligen Kinosaal die Toiletten und die Küche. „Das war sehr besonders“, sagt Reimar de la Chevallerie. Gerade für Schauspieler:innen aus dem Stadttheater, die bei den Proben in der Regel Ruhe haben, sei es eine Herausforderung gewesen, „im Wohnbereich“ der Geflüchteten zu proben. Nicht selten sei es vorgekommen, dass Bewohner:innen aus der Unterkunft während einer Probe auf der Bühne auftauchten.
Durch die Zusammenarbeit mit den Menschen, die aus ihrer Heimat fliehen mussten, habe sich die Blickrichtung vom „Blick auf die anderen“ zum gemeinsamen Blick auf die Dinge gewandelt, sind sich Müchler und de la Chevallerie einig. Die Regisseur:innen im Boat People Projekt gestalteten nicht mehr, was sie nicht kannten. Betroffene übernähmen nun die Regie. Für das Kernteam bleibe die dramaturgische Arbeit. Hierarchische Strukturen wie am Stadttheater seien in der Theatergruppe aufgebrochen. Das sieht de la Chevallerie als Alleinstellungsmerkmal: „Ich finde schon, dass wir da sehr weit sind.“
Auch in anderer Hinsicht ist das Boat People Projekt anders. In dem Zusammenschluss mit der Vision, dass alle Menschen gleich sind, werden keine festen Eintrittspreise erhoben. Als freiwilliger Solidaritätsbeitrag wird der Ticketpreis behandelt. Je nach Veranstaltung bietet ein Empfehlungsrahmen mit frei wählbaren Preisstufen Orientierung. Müchler macht klar: Ohne Förderung könne das Theater nicht überleben. Mit den abgestuften Preiskategorien könnten auch die Menschen mit wenig Geld in die Vorstellungen kommen.
Ein zentrales Thema des freien Theaters derzeit ist die Auseinandersetzung mit der digitalen Welt. Das Smartphone sei Teil des Körpers geworden, bringt Reimar de la Chevallerie die derzeitige Situation auf den Punkt. Die Auseinandersetzung mit diesem Phänomen sei auch in der Kunst gefordert.
Davon unerschrocken zeigt sich das Boat People Projekt. Nicht selten kommen hier in jüngster Zeit auch AR-Brillen zum Einsatz, so zum Beispiel in der Installation „Win back Damascus“, die ab Ende September 2022 (Premiere: 23. September) im Göttinger Nikolaiviertel präsentiert wird. In einem szenischen Rundgang mit diesen Brillen sollen verlorene Orte lebendig werden. Ein gemischt syrisch-deutsches Ensemble aus Programmierer:innen, Austatter:innen, Autor:innen und Schauspieler:innen stellt viele Fragen an die Wahrheit, an den Wert von Erinnerungen. Und passend zur Haltung der Aktiven in der freien Theatergruppe wird in der Ankündigung dieses Projekts gegendert.
Fokus
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Im Artikel genannt
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Luise Rist
Autorin und Mitbegründerin des boat people projelt
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