Schnell wird klar: Eine Wahl zu treffen, ist alles andere als leicht. Während einige fast instinktiv wissen, welchen Moment sie festhalten möchten, kämpfen andere mit der Fülle an Erinnerungen - oder der Angst, vielleicht nicht den richtigen Augenblick zu finden. Was, wenn kein Moment bedeutend genug erscheint? Oder wenn das, was am meisten zählt, längst von Schmerz und Verlust überschattet wurde?
Nach ihrem Tod gelangen die Darsteller:innen auf eine Zwischenstation, einen trostlosen, grauen Ort, der an ein Büro mit Wartezimmer erinnert. Bevor sie weiter ins Jenseits gehen können, müssen sie eine Erinnerung wählen, in der sie bleiben wollen. Aufgenommen werden sie von Lotsen, die selbst auch das Grau des trostlosen Ortes widerspiegeln. Ihr immer wiederkehrender Arbeitsalltag besteht daraus, die Klienten zu unterstützen und die Aufgabe zu bewältigen. Eine Woche bleibt ihnen, um einen Moment auszuwählen, der dann detailgetreu von den Angestellten inszeniert wird. Kaum genug Zeit, um sein ganzes Leben zu durchforsten. So entstehen auch bei den Verstorbenen zunächst große Verwirrung und Unsicherheit.
So fragt eine ältere Dame, nachdem sie vom Chef (Marco Matthes) durch einen Lautsprecher aufgerufen wurde, unnachgiebig nach ihrer Katze, die sie zurückgelassen hat. Mit viel Herz spielt Angelika Fornell, diese zwar verwirrte, aber doch bestimmte Seniorin, die hin und hergerissen ist, da ihre positiven Erinnerungen von leidvollen Momenten übermannt wurden. Auf anderer Seite erscheint das Leben des 71-jährigen Rentners (Jürgen Wink) durch und durch nur mittelmäßig gewesen zu sein. Womit solle er das Jenseits betreten, wenn alles doch nur „normal“ und nicht besonders gewesen war?
Die Lotsen versuchen mit Geduld und Einfühlungsvermögen ihren Schützlingen unter die Arme zu greifen und das bestmögliche Ergebnis zu erzielen. Roman Majewski verleiht seiner Rolle durch viel Empathie eine besondere Wärme, während Gerd Zink als engagierter Begleiter eines ehemaligen Piloten (Nikolaus Kühn) alles daransetzt, dessen schnell gewählte Erinnerung – einen Flug über den Wolken – so authentisch wie möglich nachzustellen. Dabei ringt er jedoch vor allem mit der Herausforderung, die bestimmte Wolkenart realistisch nachzubilden.
Doch nicht alle Verstorbenen sind auf der Suche nach einer „echten“ Erinnerung. Eine Klientin, gespielt von Marina Lara Poltmann, schafft sich eine eigene Erinnerung – falsch, aber glücklich. Diese Entscheidung öffnet eine weitere Dimension des Stücks: Dass es nicht nur um wahre Erinnerungen geht, sondern auch um die Schaffung von Momenten, die uns Frieden und Glück bringen. Es ist eine Botschaft des Trostes und der Selbstbestimmung.
Die Lotsen bringen die Verstorbenen, jedoch auch zum Hinterfragen der gewählten Szenerien, um voreiligen Schlüssen entgegenzuwirken und einen Moment der echten Zufriedenheit zu finden. Die Beziehungen und Interaktionen der Figuren untereinander werfen dabei spannende Fragen auf: wieso liegt den dort Arbeitenden so viel daran, dass jeder eine Erinnerung findet? Und was passiert mit denjenigen, die nach Zeitablauf nichts auswählen konnten?
Das Bühnenbild trägt dabei maßgeblich zur Atmosphäre des Stücks bei. Die von Daniel Roskamp konzipierte Drehbühne, die einen fließenden Wechsel zwischen Büroraum und Warteraum ermöglicht, zeigt subtil die Farblosigkeit und die Monotonie dieser Station zwischen Leben und Jenseits. Jeder Szenenwechsel wird von einem besonderen Klang begleitet: Michael Frei - der die Tuba für dieses Stück extra erlernte - spielt das Instrument bei jedem Übergang. Die Töne mögen vielleicht noch nicht ganz ausgereift klingen, doch genau diese ungeschliffenen Klänge verstärken die Absonderlichkeit dieses Ortes, in dem so große Entscheidungen getroffen werden.
»Nach dem Leben (After Life)« ist kein aufgeregtes Stück. Es entfaltet sich eher unaufgeregt, mit einer ruhigen Intensität, die die Zuschauer:innen dennoch fesselte. Der Tod ist weniger das Thema, vielmehr geht es um das Leben und die Momente, die es ausmachen. In seiner Schlichtheit lädt es dazu ein, über die Bedeutung von Erinnerungen nachzudenken und darüber, was im Leben wirklich zählt. Die Inszenierung von Ulrike Arnold ist nicht laut (es könnte jedoch ab und an etwas lauter gesprochen werden), sie spricht aber trotzdem an – nicht aufdringlich, aber nachhaltig. Sie regt zum Nachdenken an, ohne sich dabei in großen Dramen oder erschütternden Szenen zu verlieren. Es ist nicht humoristisch im klassischen Sinne, doch es gibt immer wieder Momente, die zum Schmunzeln einladen. Durch die subtile Herangehensweise und die stimmige Inszenierung ist es ein Stück, das auf angenehme Weise nachhallt. Und gerade, weil es nicht überladen ist, bleibt es besonders: erfrischend kurz, prägnant und angenehm. Ein Theatererlebnis, das durch seine Botschaft überzeugt.
Die nächsten Vorstellungen finden Sie auf der Homepage des Deutschen Theaters. Am Ende bleibt jedoch die Frage: Welche Erinnerung würden Sie nach Besuch des Stückes wählen?
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