Vollständige Erlösung gibt es nicht

Premiere von »Singularis« in der Inszenierung von Dominique Schnizer

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Die Zeit ist ein linear verlaufendes Aufeinanderfolgen von Augenblicken. Konzeptionell gesehen. Mit dieser Auffassung bricht Nis-Momme Stockmann in seinem Theaterstück »Singularis« nämlich radikal. Zeit ist hier eine Schleife, eine ineinander verwobene, simultan existierende Idee, die keinen Unterschied zwischen der konventionell separierten Vergangenheit, Zukunft oder Gegenwart macht. Das Resultat aus dieser Erkenntnis: Verwirrung, Überforderung, der sehnliche Wunsch nach einträchtiger Einsamkeit.

Mit dieser Bürde sehen sich die besten Freundinnen Ava und Emmi, gespielt von Nathalie Tiede und Stella Maria Köb, konfrontiert. Nachdem die beiden zusammengezogen sind, sollte das Leben richtig losgehen, stattdessen verweilen diese in scheinbar endloser Stagnation. Ekstatische Partynächte, überschwänglicher Drogenkonsum und eine von Prekarität gezeichnete Wohnsituation bestimmen den Alltag. Dabei ist es Avas sehnlicher Wunsch, an der Universität für ein Psychologiestudium angenommen zu werden, während Emmi eine Karriere als Künstlerin anstrebt. Spätestens, nachdem die beiden ein Portal in die Vergangenheit hinter ihrem Badezimmerspiegel entdecken, wird die zentrale Rolle und wegweisende Funktion jener Freundschaft für das Stück deutlich. Während Ava eine Obsession mit der universellen und temporalen Verworrenheit entwickelt, wünscht Emmi absolute Abkehr. Die Schauspielerinnen portraitieren dabei eine komplexe zwischenmenschliche Beziehung, die sich nach inniger Zuneigung zu einer asymmetrischen, von Dominanz und Ignoranz bestimmten Abneigung zuspitzt.

Energetische Beleuchtung und Tontechnik

Die Konfusion, die das Portal sowie die damit einhergehende Hetzjagd an Erinnerungen in Ava auslöst, wird einprägsam kommuniziert durch die energetische Beleuchtung und Tontechnik von Tobias Gleitz und Steffen Knoke. Blitzartige Stroboskopfeffekte und Geräusche, die dem Summen von Elektrizität gleichkommen, schaffen eine Atmosphäre der Spannung, gleichzeitig aber auch der Panik und der Indisposition. Das hektische Flackern kombiniert mit dem Einsatz einer Drehbühne verleiht dem Theaterstück einen fragmentarischen, episodenhaften Charakter und verstärkt dabei gleichzeitig die Aufhebung von Temporalität, die in Avas Kollision mit traumatischen Erfahrungen gipfelt.

Trotz humoristischer Dialoge transportiert das Stück umfassende Gesellschaftskritik. In den Rollen gesellschaftlich exkludierter Bettler sowie eines Greenpeace-Aktivisten machen Gaby Dey, Daniel Mühe und Paul Trempnau auf diverse Kontroversen wie die Unsinnigkeit der Sinnsuche aufmerksam, solange Lebenszeit kommodifiziert und zur Ware gemacht wird, oder auch die verschwenderische Konsumgesellschaft, welche die Natur bedroht. Weiterhin wird auf den defizitären Menschen referiert, der nach den Gesetzen der Mathematik definitiv und zwangsläufig irreversiblen Schaden anrichten wird. »Singularis« bricht nicht nur mit der traditionellen Auffassung von Zeit, mit diesem Bruch wird vor allem ein indirekter Appell formuliert, die Zukunft nicht als ein Konstrukt ferner Sehnsüchte, sondern als gegenwärtig präsente Wirklichkeit zu sehen, die im jetzigen Handeln geformt wird. Ebenfalls wird die deterministische Wirkung der Vergangenheit hervorgehoben, die im Ich der Gegenwart omnipräsent ist. Jene Kritik an der Gesellschaft sowie die Rolle der Zeit wird zuletzt auf eine individuelle Ebene bezogen, indem diese Schattenseiten der sozialen Realität zu der drängenden Überlastung beitragen, die Ava am Ende zu einem Moment der friedlichen Ruhe zwingt.

Das Stück hinterlässt das Publikum mit einer finalen Warnung und gleichzeitig einem Zugeständnis: Vollständige Erlösung gibt es nicht, aber Pausen. Man muss nur den Mut haben, sie einzufordern.

Dieser Artikel erschien zuerst im Magazin des Kulturbüro Göttingen. Redaktionell verantwortlich sind das Kulturbüro Göttingen sowie dessen Autor:innen.
Verfasser:in

Keanu Demuth

Journalist und Autor beim Kulturbüro Göttingen

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