Sie ist mehr als ein Industriedenkmal – die Historische Spinnerei im Gartetal. An diesem Ort kommen Menschen zusammen, Menschen, die an Technik und Kultur sowie an Begegnungen interessiert sind. Doch wie ist diese Entwicklung möglich geworden? Der Vorsitzende des Vereins Historische Spinnerei Gartetal, Jürgen Haese, weiß viel über die Geschichte des eindrucksvollen Industriedenkmals zu erzählen.
Im Gartetal, zwischen Benniehausen und Klein Lengden, verweist ein Schild an einem Parkplatz auf die Spinnerei. Wer anhält und noch einen schmalen Schotterweg entlangläuft, stößt auf ein ansehnliches Fachwerkensemble mit einer Scheune und einem Backhaus. Wer dann durch die Fenster der Halle späht, sieht große, altertümliche Maschinen. Es sind Maschinen zur Herstellung von Garn, sagt Haese. Seit 1992 hat er den Vorsitz des Vereins „Historische Spinnerei im Gartetal“ inne. Eine Dozentin der damaligen Pädagogischen Hochschule habe die Spinnerei bei einer Fahrradtour entdeckt, gibt der Vereinsvorsitzende die Geschichte der Entdeckung wieder. Als die Radlerin bei einem Blick durch die Fenster all die historischen Maschinen sah, erkannte, welche Schätze dort ruhten, habe sie Mitstreiter gesucht, um diese Zeugnisse aus alten Zeiten zu erhalten. In ihrem Arbeitsumfeld sei sie fündig geworden. Die Vorbereitungen zur Gründung eines Vereins mit diesem Ziel begannen 1981. Ein Jahr später wurde der Verein aus der Taufe gehoben. Zunächst habe es einen Förderverein parallel zu einem Trägerverein als Eigentümer der Immobilie gegeben, weiß Haese. 2005 seien die Vereine unter dem Namen „Historische Spinnerei Gartetal e.V.“ zusammengeführt worden.
In der langen Zeit haben Mitglieder aus dem Verein viel über die frühere Produktionsstätte erfahren. So ist die Historische Spinnerei aus der seit 1596 belegten Saumühle, einer Getreidemühle, hervorgegangen. Der damalige Müller habe unerlaubt einen Graben für die Mühle ausgehoben. Der zuständige Amtmann habe verfügt, dass der Graben wieder zugeschüttet wurde. Das habe sich der Müller nicht bieten lassen wollen. Mit einem wahren Heer von Bauern soll er den Mühlengraben wieder ausgehoben haben.
1651 wurde die Getreidemühle zu einer Papiermühle umgebaut. Dort wurde mit dem ersten dokumentierten „Papier-Recycling-Versuch“ Europas Geschichte geschrieben: 1774 hat Justus Claproth ein Verfahren entwickelt, mit dem Druckerschwärze aus Papier herausgewaschen werden kann. Da es sich als sehr aufwendig erwies, habe es sich erst 100 Jahre später durchsetzen können.
Wie ist es dann dazu gekommen, dass es an diesem Standort eine Spinnerei gibt? 1836 vernichteten Flammen das Gebäude der Papiermühle. Damals blickte man auf 185 Jahre in der Papierherstellung zurück. Doch der Betreiber der Mühle hatte sich mit der Gemeinde überworfen. So gab es für ihn keinen Grund zum Wiederaufbau. Er siedelte sich in Weende an. Der Tuchmacher Franz Josef Fromm aus Küllstedt habe dessen Nachfolge angetreten. Ursprünglich habe er sich in Katlenburg niederlassen wollen, erzählt Haese. Doch die Gemeinde habe Erkundigungen eingezogen und erfahren, dass die Familie in ihrer Heimat für Trinkgelage und Messerstechereien bekannt war. Mit solchem „Pack“ wollte Katlenburg sich nicht belasten. Der Wollfabrikant Fromm suchte Alternativen und wurde an der Garte fündig. Er kaufte die Papiermühle mit ihrer 240 m2 großen Halle und funktionierte sie zur Wollverarbeitung um. Verbindungen ergaben sich durch Eheschließung zur ehemals berühmten Tuchherstellung in Göttingen an der Leine. Doch im Jahr 1967 wurde die Spinnfabrik an der Garte geschlossen.
Bemerkenswert ist aus Haeses Sicht, dass fünf der historischen Maschinen laufen. 2018 habe sich ein Team zur Wartung dieser Schätze gefunden. Haese betont, dass keiner vom Fach sei. Zeitzeugen gebe es nicht mehr. Die Helfer in der Runde von einer Frau und sieben Männern zählten zwischen ein paar Jahren über 60 und etwas unter 80 Jahren. Ziel sei es, die alten Maschinen so gut wie möglich instand zu halten, und die alten Prachtstücke, die noch funktionierten, zu Demonstrationszwecken am Laufen zu halten. Stolz zeigt Haese den Selfactor, eine Weiterentwicklung der ersten Spinnmaschinen. Aus England kam dieser Industrieautomat, der als erster ohne Zutun arbeiten konnte.
Langfristig möchte der Verein an der Garte nicht nur zu Demo-Zwecken Fäden spinnen. Zu diesem Zweck solle eine Kooperation mit der Wollmanufaktur „Monas Wollkessel“ in Elliehausen aufgebaut werden. Haese freut sich, dass die Alte Spinnerei Lengenfeld jüngst den Aufbau eines Netzwerks für Spinnereibetriebe angestoßen habe.
Um für das Industriedenkmal unabhängig davon langfristig Perspektiven zu schaffen, ist in dem Ensemble seit 2019 ein gut laufender Kulturbetrieb aufgebaut worden. An jedem zweiten Mittwoch im Monat könnten Interessierte ab 18 Uhr in der Spinnerei zusammenkommen und ab 19 Uhr eine Lesung hören, ein Theaterstück sehen – auch dank guter Zusammenarbeit mit Deutschem und Jungem Theater – oder ein Konzert genießen. In der Größe zwischen 40 und 100 beziffert Haese die Besucherzahlen.
Um Künstler, die dort auftreten wollen, muss der Verein sich keine Gedanken mehr machen. Unlängst sei die Anfrage von einem Chansonnier aus Berlin gekommen. Für das kommende Jahr habe sich bereits jetzt ein Gitarrist aus Kanada angekündigt.
Zum sechsten Mal wird das Göttinger Ukulelefest am 10. August in der Historischen Spinnerei ausgetragen. Wieso sich das Göttinger Fest in Gleichen und nicht in Göttingen angesiedelt hat, weiß Jürgen Haese zu erklären. Der Initiator Peter Funk habe in der Historischen Spinnerei vor dem ersten Fest mit den gitarrenähnlichen Lauten einen Lyriker musikalisch begleitet. Weil es sich schwierig gestaltet habe, für das erste Ukulelefest einen Veranstaltungsraum in Göttingen zu finden, habe er bei der Spinnerei angefragt. Zuerst sei das besondere Fest im Veranstaltungssaal dort ausgerichtet worden. Schon beim zweiten Mal spielte die Musik im Hof, das Fest ist ein Open-Air-Termin geblieben.
Für Haese sind für die Spinnerei die verschiedenen beschriebenen Standbeine wichtig. Für regelmäßige Öffnungszeiten fehle das Personal. Alle Mitmacher im Verein seien im Ehrenamt beschäftigt. Doch auf Anfrage könne die Spinnerei jederzeit zugänglich gemacht werden. Als Industriedenkmal zeuge sie von alten Zeiten und Produktionstechniken, die früher gängig waren. Der Veranstaltungsraum stehe für Workshops und für Feiern zur Verfügung. Als drittes Bein habe sich die Kulturkneipe entwickelt. Am Sonntag und an Feiertagen wird aus der Kneipe das Hofcafé, das Uschi Simon mit Herzblut betreibe – von 13 bis 18 Uhr ist es dann geöffnet. In der Galerie im alten Wohnhaus können die Besucher Kunstausstellungen genießen. Viele Vorteile sieht Haese in diesem Konstrukt – so könnten sich die Sparten befruchten und in der Historischen Spinnerei im Gartetal sei subventionsfreie Kultur möglich geworden.
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