Verdrängte Geschichte(n) begreifbar machen

KZ-Gedenkstätte Moringen erinnert an Konzentrationslager in der Kleinstadt

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Auschwitz, Dachau, Bergen-Belsen – mit diesen Namen ist der Schrecken der Konzentrationslager im Nationalsozialismus fest verbunden. Anders bei Moringen im Landkreis Northeim. Doch auch hier, mitten im Ort, dort wo sich heute das Maßregelvollzugszentrum Niedersachsen befindet, wurden von 1933 bis 1945 Menschen gefoltert und erniedrigt. Auch hier, im KZ in Moringen, wurden Menschenrechte mit Füßen getreten.
Nicht nur eins, nein drei Konzentrationslager waren zwischen 1933 und 1945 im Ortskern Moringens angesiedelt: ein Männer-KZ von April bis November 1933, ein Frauen-KZ von 1933 bis 1938 und ein Jugend-KZ von 1940 bis 1945. Das Männer-KZ sei 1933 dem Werkhaus in Moringen angegliedert worden, erklärt Gedenkstättenleiter Stefan Wilbricht. In Werk- oder Arbeitshäusern habe man Menschen wie Bettler, Landstreicher und Prostituierte festgesetzt, um sie von der Öffentlichkeit fernzuhalten und ihre Arbeitskraft zu nutzen.

Doch in der Weimarer Republik gingen die Einweisungen in solche Arbeitshäuser zurück. So wurden 1933 laut Wilbricht auch im Moringer Werkhaus mit etwa 350 Betten nur 70 „Korrigenden“ festgehalten. Diesen Umstand hätten sich die Nationalsozialisten nach dem Reichstagsbrand im Februar 1933 zunutze gemacht. Mit der Notverordnung ‚Zum Schutz von Volk und Staat“ war es möglich, Menschen ohne Nennung von Gründen zu verhaften. Unzählige politisch Andersdenkende konnten so einfach aus dem Weg geräumt werden. So seien die Gefängnisse allzu schnell überfüllt gewesen, schildert der Historiker Wilbricht. Die freien Betten im Moringer Werkhaus für 1,60 Reichsmark pro Tag seien da gerade recht gekommen. Schon eine Woche nachdem das Werkhaus am 8. April 1933 von den Nationalsozialisten vereinnahmt worden war, waren dort fast 300 Menschen festgesetzt. Noch zwölf Jahre, bis zum Ende des Krieges, ging das menschenverachtende Unrecht hier weiter.

Mit seinem Team will Stefan Wilbricht so viel wie möglich von dem dunklen Abschnitt in der Geschichte Moringens erzählen. Doch die Aktenlage sei schlecht. Die Unterlagen aus dem Jugend-KZ habe die SS bei Kriegsende verbrannt, damit sie kein Zeugnis von den Gräueltaten im KZ Moringen geben konnten. Weil Moringen für die Frauen in der Regel nur eine von weiteren Stationen war, seien deren Akten oft an die aufnehmenden Stellen mitgegeben worden. Auch aus dem Männer-KZ gebe es wenig Dokumente.

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Mit den Jahren seien mehr und mehr ehemalige Häftlinge an den Ort ihres Leidens zurückgekommen und hätten von dem Schrecklichen erzählt, was sie im Moringer KZ erleben mussten, weiß Wilbricht. Frühere Häftlinge und Menschen, die in Moringen und Umgebung lebten, gründeten 1989 die Lagergemeinschaft zur Aufarbeitung der lange verdrängten Geschichte. Gegen anfängliche Widerstände wurde die KZ-Gedenkstätte in der Langen Straße 58 1993 gegründet.

Die Auseinandersetzung um einen offenen Umgang mit der Vergangenheit sei in Moringen sehr erbittert geführt worden, berichtet der Gedenkstättenleiter. Die zentrale Lage des Konzentrationslagers im Ort beschreibt er als „sehr ungewöhnlich“. So habe es zum Alltag der Menschen dort gehört. Wie heute das Maßregelvollzugszentrum sei es ein Hauptarbeitgeber der Kleinstadt gewesen. Deshalb sei die Einrichtung des KZs zunächst positiv aufgenommen worden. Unweigerlich hätten die Einwohner viel vom menschenunwürdigen Umgang mit den Häftlingen mitbekommen. Umso weniger sei darüber gesprochen worden. Eine Jugendgruppe aus Moringen habe erst bei einem Besuch des Konzentrationslagers in Auschwitz von der Existenz des KZs in ihrem Heimatort erfahren.

Bei den Führungen, die zum Beispiel Schulklassen in der Gedenkstätte erleben, wird von den Menschen erzählt, die hier festgehalten wurden. Ein Beispiel ist das Schicksal von Erwin Rehn. Über die Tochter ist seine Geschichte in die Gedenkstätte gekommen. Sie hatte noch Exemplare ihres Buches „Heider Gottsleider“, in dem sie das Leben des Vaters schildert, der von 1943 bis zum Kriegende im Jugend-KZ Moringen festgehalten wurde. Von ihr hat die Gedenkstätte persönliche Dinge von Erwin Rehn bekommen: seinen Taschenkalender mit Terminen und Notizen, sein Zeugnisheft und Zeichnungen, die Dinge aus den Baracken zeigen, in der die Jugendlichen lebten. „Unsere Lieblinge“ nennt Erwin Rehn die Stiefel, die auf der Zeichnung zunächst normal erscheinen. Liest man, wie die groben Holzschuhe mit Lederschaft die Füße aufrieben, versteht man den Sarkasmus in Rehns Kosenamen.

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Zeichnungen von Erwin Rehn von Details in den Baracken, in denen die Häftlinge im KZ-Mohringen ihr Leben fristen mussten
Lizensiert gemäß Alle Rechte vorbehalten von Ute Lawrenz

Von Erwin Rehn: Zeichnungen von Details in den Baracken, in denen die Häftlinge ihr Leben fristen mussten

Der ehemalige KZ-Häftling Rehn hat durch das Buch der Tochter Kontur bekommen. Schon als kleiner Junge erlebt Erwin mit, wie Kommunisten von Mitgliedern der NSDAP verprügelt werden. Die Sympathien des Jungen sieht die Tochter klar auf der Seite der Kommunisten (Heider Gottsleider, Berlin, Pro BUSINESS 2005, S. 42). Erwin ist zwar Mitglied der Hitlerjugend, steht aber innerlich nicht dahinter, weil die Nationalsozialisten andere Menschen missachten. Keine Lust hat er auf die militärischen Rituale und den damit verbundenen Dauerdrill.
Der Junge wird auffällig, weil er sich als Fahrschüler in Gaststätten aufhält, wenn er auf seinen Zug warten muss. Obwohl es den Deutschen verboten ist, sich mit den Zwangsarbeitern anzufreunden, trifft er sich mit ihnen, erledigt Botengänge für sie. Er entwirft Flugblätter gegen die Nazis. Eins davon entsorgt er im Mülleimer der Schule. Es wird entdeckt, ein Lehrer meldet Erwin bei der Gestapo. Er wird von der Polizei vernommen und entgeht nur knapp seiner Verhaftung.

Immer größer wird sein Widerstand gegen die Nazis, immer mehr gerät er in deren „Schussfeld“. Er beschließt, nach Holland zu fliehen und wird auf der Flucht verhaftet. Als Landesverräter droht ihm die Todesstrafe. Stattdessen warten endlose Verhöre und eine Reise durch verschiedene Gefängnisse, bis er im Sommer 1943 als politischer Häftling im „Jugendschutzlager“ Moringen landet. Täglich zehn bis 16 Stunden Schwerstarbeit sind üblich. Wer nicht pariert, dem drohen harte Lagerstrafen wie stundenlanger Strafsport oder Essensentzug. Von Mithäftlingen werden Rehn nur geringe Überlebenschancen zugesprochen. (Heider Gottsleider, S. 230)Am 4. April 1945 wird Rehn mit Leidensgenossen einberufen. Sie laufen einem gegnerischen Panzer in die Arme. Für Rehn ist das der Moment der Befreiung. Die Zeit im KZ wird er nie vergessen. Zum einen hat er gesundheitliche Schäden, die ihn den Rest seines Lebens begleiten. Zum anderen lässt es ihm keine Ruhe, wie seine Peiniger nach dem Krieg unbehelligt Karriere machen. Er selbst habe lange um die Anerkennung als Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung und eine Entschädigung kämpfen müssen, schildert die Tochter Erwin Rehns.

Ein Mini-Teegeschirr erzählt eine andere Geschichte. Ganz zart, ja zerbrechlich sieht die Teekanne aus, dazu ein ebenso zierliches Zuckerschälchen und vier Tassen. Kaum zu glauben, dass die Frauen, die in der Zeit von 1933 bis 1938 im Moringer Konzentrationslager für Frauen einsaßen, solch ein Teeservice besaßen. Und doch, mit ebendiesen Tassen haben sie sich zum Tee getroffen und konnten dabei viele oft schwermütige, doch manchmal vielleicht auch schöne Stunden verleben.
Doch während die Gespräche Wirklichkeit waren, mussten sich die Frauen den Tee dazu denken. Denn kaum so groß wie ein Daumennagel waren ihre Tassen, in die Teekanne würde nicht einmal ein Fingerhut des Genussgetränks passen und außerdem sogleich durch ihre Ritzen rinnen. Aus abgespeisten Schellfischknochen sei das Service gefertigt worden, erzählt Madita-Frederike Hagen, stellvertretende Leiterin und wissenschaftliche Mitarbeiterin für Projektmanagement, Kommunikation und Besucherdienst der KZ-Gedenkstätte.
Die Schellfischknochen seien Reste der Speisen, die das Wachpersonal sich schmecken ließ, sagt Hagen. Die inhaftierten Frauen hätten gefragt, ob sie die Knochen bekommen könnten, die Reste abgenagt und aus den Gräten ihre kleinen Kunstwerke gefertigt.

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Roter Hintergrund und ein Teeservice aus Schellfischknochen
Lizensiert gemäß Alle Rechte vorbehalten von Ute Lawrenz

Mit diesem Teeservice probten die Frauen im KZ ein Stückchen Normalität.

Auguste Wurbs habe das Service besessen, das nun in der KZ-Gedenkstätte von damals erzählt. Die Plastikdose mit dem wertvollen Gut sei per Post aus dem Rhein-Neckar-Kreis gekommen, erzählt die pädagogische Mitarbeiterin der Moringer Gedenkstätte, Miriam Hockmann, noch heute ist teils schwach darauf zu lesen, welch besonderes Gut der Behälter beherbergte.
Vor zwei Jahren habe die Urenkelin von Auguste Wurbs per Mail angefragt, ob die Gedenkstätte Interesse an dem Teeservice habe. Erst dadurch sei der Name der Urgroßmutter als Insassin des Frauen-KZ bekannt geworden, erläutert Hagen. Denn es gebe kein Lagerbuch und damit keine vollständigen Listen der Frauen, die hier inhaftiert gewesen seien.

Immer mehr Lebenswege werden langsam sichtbar. Doch so ungewöhnlich wie die Wege, auf denen sie in die Gedenkstätte finden, ist die Art, wie sie zu den Besuchern kommen. Denn Moringen hat zwar die Gedenkstätte, doch dieser wichtige Ort des Gedenkens hat keine eigenen Ausstellungsräume. Wo früher die KZ-Häftlinge unermessliches Leid erdulden mussten, ist nun das Maßregelvollzugszentrum. In einem Torhaus, das zur Stadtmauer gehört, sind Archiv und Verwaltung eingerichtet. Zum Gebäude der ehemaligen Kommandantur des Konzentrationslagers und des Werkhauses, das als Sitz der Berufsfachschule Pflege ans Maßregelvollzugszentrums angebunden ist, haben Besucher der Gedenkstätte Zugang. In Schubladen finden sie Dokumente über die Insassen des KZ, bei Führungen können sie hier einem Film über die KZ-Geschichte folgen. 

Doch die Kammern, in denen die KZ-Häftlinge leben mussten, gehören heute zum Maßregelvollzugszentrum und sind somit für Besucher verschlossen.
Um dieser Beschränkung abzuhelfen, stellt die pädagogische Mitarbeiterin der Moringer Gedenkstätte, Miriam Hockmann, persönliche Dinge und Dokumente der Menschen, die im KZ leiden mussten, zusammen - in Boxen, anhand derer die Besucher ihr Leben nachempfinden können. In der Kiste für Leopold Dietrich beispielsweise steckt eine Aufnahme aus seiner Jugend, bevor er ins KZ eingeliefert wurde. Vom Sinto Siegfried Schütt gebe es im Archiv nur die Bilder, die zur erkennungsdienstlichen Identifikation beim Haftantritt angefertigt wurden. Hockmann weiß: Schütt wurde verhaftet, weil er unerlaubt Fahrrad gefahren sei. Mit Unterstützung von künstlicher Intelligenz hat sie ihn fröhlich auf einem Fahrrad gezeichnet.

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Alte Fotos, ein Gürtel, eine Schalplatte und eine Box mit Fußbällen drauf
Lizensiert gemäß Alle Rechte vorbehalten von Ute Lawrenz

Mit diesen Boxen voller persönlicher Dinge will das Team der Gedenkstätte die Besucher das Leben der Häftlinge nachempfinden lassen.

„Mir ist es wichtig, verschiedene Perspektiven zu erzählen“, erklärt die Historikerin im Gedenkstätten-Team. Sie möchte Haftgruppen mit unterschiedlichen Haftgründen zeigen. Sie will von den Menschen erzählen, die die Zeit nicht überlebten, von denen, die Widerstand geleistet haben, genauso von denen, die das nicht konnten. Auch die weibliche Sicht möchte sie einbeziehen. „Sexuelle Verwahrlosung“ wurde Frauen mit wechselnden sexuellen Beziehungen vorgeworfen. Einer Frau, die als Kind vergewaltigt wurde, wurde keine psychologische Hilfe zuteil - ihr wurde Frühsexualisierung vorgeworfen.

Mit wichtigen Utensilien für die festgesetzten Menschen möchte Hockmann die Boxen bereichern. Für Günther Discher, der sich dem Swing verschrieb – diese Musik war in der Nazi-Zeit verboten – erwarb sie eine Single von Louis Armstrong. In der Kiste für Leopold Dietrich befindet sich neben einem Brief zum Geburtstag seiner Mutter ein Gürtel. Im KZ habe er Koppeln nähen müssen, das sind funktionelle Gürtel für Wehrmachtsuniformen. Schwere Arbeit war es für ihn, die Nadel durch das dicke Leder zu stechen. Auch um die Ausgaben für solche Dinge abzudecken, wird das Projekt durch die KSN-Stiftung gefördert.

Mit den „Kisten für ein ganzes Leben“ – so könnte ein Arbeitstitel lauten – können Besucher wie sonst in Ausstellungsräumen auf Entdeckungsreise gehen und viel über die Menschen erfahren, die im Moringer Konzentrationslager festgehalten wurden. Das Team in der KZ-Gedenkstätte hofft auf jeden Fall, das Unfassbare, was in der Zeit des Nationalsozialismus auch in Moringen geschah, so für die Besucher besser greifbar zu machen.
Die KZ-Gedenkstätte Moringen in der Langen Straße 58 präsentiert sich beim Tag des offenen Denkmals am Sonntag, 8. September. An diesem Tag werden drei zweistündige, geführte Rundgänge angeboten. Beginn ist um 10, 14 und 15 Uhr. Um Anmeldung zu den Führungen per Telefon 05554/2520 oder Mail an info@gedenkstaette-moringen.de wird gebeten.

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Außenansicht der Kommandozentrale der KZ-Gedenkstätte in Moringen
Lizensiert gemäß Alle Rechte vorbehalten von Ute Lawrenz

Die Kommandozentrale der KZ-Gedenkstätte in Moringen: Hier kamen die Häftlinge an.

Verfasser:in

Ute Lawrenz

Journalistin und Autorin des kulturis-Magazins

Fokus

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Im Artikel genannt

Im Artikel genannt
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Plakat Tag des offenen Denkmals KZ-Gedenkstätte Moringen
Führung

Tag des offenen Denkmals am 08.09.2024

Geführter Rundgang und Blick auf die Sammlung zum Frauen-KZ Moringen

„Anlässlich des Tag des offenen Denkmals bietet die KZ-Gedenkstätte drei Rundgänge zum Frauen-KZ Moringen an. Im Rahmen des Rundgangs zum historischen Ort der Moringer KZ werden einzelne Objekte aus der Sammlung zugänglich gemacht und deren Geschichten und Urheberinnen vorgestellt. Sie zeugen von...

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