»Wir haben eine Gleichzeit erlebt«, erzählt Ofer Waldmann. Er liest seinen Brief vor, welchen er zwei Monate nach Kriegsausbruch in Israel an seine Freundin Sasha Marianna Salzmann geschrieben hat. Mit der Lesung »Gleichzeit« öffnete das Literaturhaus am 10. Oktober die Türen für einen sehr offenen und besonders intimen Dialog zwischen den beiden Schriftsteller:innen Sasha Marianna Salzmann und Ofer Waldmann.
Der 7. Oktober unterbricht gewaltsam das Leben unzähliger Menschen. Um mit dieser Fassungslosigkeit umgehen zu können, beginnen sich zwei Freunde Briefe auf einem Blog zu schreiben: Der in Israel lebende Musiker, Journalist und Autor Ofer Waldmann und die Schriftstellerin Sasha Marianna Salzmann, die die Auswirkungen des Krieges in Berlin beobachtet. In diesen Briefen beschreiben sie, wie ihr Alltagsleben nach Kriegsausbruch weitergeht und geben dabei intime persönliche Einblicke und eröffnen damit eine neue Perspektive. Alltagsrealitäten, die in den meisten Medien manchmal zu wenig Beachtung bekommen.
Zur gleichen Zeit, also zur »Gleichzeit«, erleben sie die Veränderungen durch den Krieg. Aus diesen gesammelten Briefen und Blogeinträgen entstand dann folglich ihr gleichnamiges Buch »Gleichzeit« (Suhrkamp 2024).
Im Literaturhaus lasen Salzmann und Waldmann ihre Briefe vor und sprachen über Scham, Sprachlosigkeit und zeigten, dass eine gute Freundschaft nicht nur aus reiner Harmonie bestehen muss. Vor allem die unterschiedlichen Ansichten der zwei befreundeten Autoren machten diesen Abend besonders spannend und aufschlussreich.
»Weck die Kinder nicht! Es ist Krieg!« Ofer Waldmann erzählt von dem Anruf seiner Mutter am Abend des 7. Oktobers 2023. Die Grenzen des Vorstellbaren und Akzeptablen seien damit überschritten worden. Ofer erzählt, dass er trotz allem versucht mit seinen Kindern im Kino zu lachen, während nicht allzu entfernt wieder jemand beerdigt wurde. Auch von einem Video der Neujahrsfeier in seiner Heimat Israel erzählt er. Die Kinder haben Spaß, während alle Eltern und Erwachsenen traurige und ratlose Blicke haben. Eine Erklärung ist hier wohl nicht nötig, so Waldmann.
Emotionaler Diskurs
Sasha Marianna Salzmann beschreibt, wie sie am 31. Oktober blutüberströmte Kinder vor ihrer Haustür sieht. Erschrocken starrt sie die Kinder an, bis ihr klar wird, dass heute Halloween ist. »Die Kinder an Halloween blutüberströmt rauszuschicken um ‚Süßes oder Saures‘ zu spielen… Das ist kein Vorwurf, aber es ist eine Beschreibung für das Gefühl, das ich habe«, sagt Salzmann. Außerdem schreibt sie in einem Brief über ihre Freundinnen aus der Ukraine. Diese schämten sich dafür, nicht bei ihren Familien in der Ukraine zu sein.
Daraufhin folgte ein emotionaler Diskurs zwischen den zwei Autor:innen über dieses Schamgefühl. Auch Ofer Waldmann habe diese Scham gefühlt, als er letzte Woche den Flug nach Deutschland genommen hat, während seine Familie noch in seiner Heimat Israel ist. Waldmann arbeitet als Journalist in Israel, nach dem 7. Oktober habe er vor Fassungslosigkeit seine Fähigkeit zu schreiben verloren. Nur das Verfassen der Briefe an seine Freundin Sasha fiel ihm nicht schwer. Dies zeigt nochmals, wie sehr wir gute Freundschaften schätzen müssen. Salzmann hingegen habe sich in der Kunst als Schutzraum geflüchtet. Viele eindrucksvolle und intime Momente, die man als Zuschauer:in sehr gut nachvollziehen konnte.
Zum Schluss gab es noch einen äußerst interessanten Gedankenaustausch über die Nation, der zeigte, dass Freunde gewiss nicht immer derselben Meinung sein müssen. In einem Briefwechsel berichtet Ofer Waldmann, dass er beim Spielen der israelischen Nationalhymne aufgestanden sei und Tränen in den Augen gehabt hätte. Dies kann Sasha Salzmann einfach nicht nachvollziehen, denn sie ist eine Jüdin, die aus der Sowjet Union kommt. Wegen ihrer Erfahrungen ist sie der Auffassung, dass eine Nationalhymne für Minderheiten gefährlich sein könne.
Persönlich, unverblümt, und sehr authentisch. Sasha Salzmann und Ofer Waldmann teilten in dieser spannenden Gesprächsrunde äußerst persönliche Einblicke und Emotionen, auf die man sich voll und ganz einlassen konnte. Es ist zwar ein ewiger Versuch, die überschrittenen Grenzen aufrechtzuhalten, dennoch dürfen wir nicht Hoffnungslosigkeit und Einsamkeit siegen lassen. Deshalb ist ein solcher Briefwechsel zwischen Freunden genau das, was wir in diesen schweren Zeiten brauchen. Das wurde an diesem Abend nochmal mehr als deutlich!
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