Intimes Theatererlebnis mit erschreckend-echten Szenen

»Die ersten hundert Tage« von Lars Werner im Deutschen Theater

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An einer abgelegenen Shell-Tankstelle an der tschechischen Grenze zu Deutschland treffen sich vier langjährige, aber zerrüttete Freund:innen. Von ihnen sind drei bereits ins Exil geflüchtet. In Rückblicken, die immer eingeleitet werden mit dem Wort „Aktualisieren”, erzählt Marin, sehr überzeugend gespielt von Moritz Schulze, von seiner Freundschaft und den aktuellen Geschehnissen. Das Wiederholen des Wortes „Aktualisieren” gepaart mit grellen Lichteffekten und lauter Musik sorgt für Drama pur, es wirkt wie eine Eilmeldung im Fernsehen. Auch das Kontrastieren der Nachrichten mit den persönlichen Flashbacks fühlt sich an wie ein „Foreshadowing”. Eine Vorahnung, dass etwas Schlimmes passieren wird zwischen den Freund:innen. Sehr gutes Story-Telling von Regisseurin Ebru Tartici Borchers. Denn als Zuschauer:in fragt man sich ständig, was damals nun passiert ist zwischen den Vier und was jetzt noch vorfallen wird an der Tankstelle.

Alle Vier waren linke Studis, gingen auf Demos und lebten ihre Sexualität in vollen Zügen aus. Schulze lieferte einen sehr guten und dramatischen Erzähler ab, der das Publikum alarmierte, berührte und manchmal auch zum Schmunzeln brachte. Denn die vier Freunde Marin (Moritz Schulze), Silvio (Christoph Türkay), Lou (Yve Grieser) und Roya (Mariann Yar) waren nicht nur sehr eng miteinander befreundet, sondern führten auch eine wilde “Vierecks”-Beziehung. Zuerst war Marin mit Roya zusammen, dann Roya mit Lou und danach er mit Silvio. An der Hochzeit von Silvio und seiner neuen Verlobten gerät das Fass zum Überlaufen. Silvio ignoriert Roya, die als Journalistin arbeitet und vor dem Vormarsch der Rechtsextremisten warnt, und alle kriegen sich in die Haare. 

Das Stück zeigt besonders authentisch dar, wie Politik Freundschaften spalten kann und die Stimmung kippen lassen kann bei Zusammentreffen. Es zeigt aber auch, dass wir uns in politisch schwierigen Lagen für Demokratie einsetzen müssen. Silvio hat seine Freunde nach langer Zeit nämlich nur aus einem Grund zusammengerufen: Er will, dass sie ihn vergessen. Silvio hat nun eine erfolgreiche Karriere als Autor für ein rechtspopulistisches Schmierblatt, aber es gibt laufende Untersuchungen gegen ihn zu seiner linken Vergangenheit. Als Gegenzug bietet er seinen Freunden finanzielle Unterstützung an. Zum Beispiel bietet er Roya Geld für ihre totkranke Mutter an. Hier zeigt das Stück besonders seine Stärken, denn hier kreierte der Cast eine ganz bedrückende Atmosphäre und als Zuschauer:in bekam man ein ganz mulmiges Gefühl. Das Publikum wird mit der schwierigen Frage konfrontiert: Soll ich mitmachen, wenn ich in solch einer Situation stecke, Widerstand leisten oder einfach vor allem davonlaufen?

Das Stück lebt besonders von seinem überzeugendem Cast, schließlich gehen alle Darsteller:innen sehr vertraut und intim miteinander um. Bei gefühlvollen Szenen sind sich alle ganz nah und bei hitzigen Diskussionen nehmen die Darsteller:innen wirklich kein Blatt vorm Mund, und es kommt zu heftigen Wortgefechten. Da das Publikum sehr nah an der dt.2-Bühne sitzt, bekommt es somit ein sehr intimes Theatererlebnis. Besonders auch die Dynamik zwischen Marin (Moritz Schulze) und Silvio (Christoph Türkay) weiß zu überzeugen. Sie wirken wie zwei Seiten einer Medaille. Beide sind sich ähnlich, haben aber unterschiedliche Wege eingeschlagen. Marin ist ins Exil gegangen, hat aber nie seine Stimme gegen den Überwachungsstaat erhoben. Er vertritt damit viele deutsche Staatsbürger, die sagen: „Wenn die Rechtspopulisten gewinnen, dann wandere ich aus.“ Silvio wird von Ehrgeiz angetrieben, er will sich einen Namen machen und eine Karriere aufbauen im rechten Staat. Silvios Ehrgeiz bringt Christoph Türkay mit seinem leichtsinnigen und zugleich dominanten Auftreten richtig glaubwürdig zur Geltung.

Freundschaftdrama und politische Debatten

Ebru Tartici Borchers hat mit »Die ersten hundert Tage« ein sehr intimes und authentisches Theatererlebnis auf die Beine gestellt, dass wie ein Weckruf wirkt. Ein Weckruf zum Stärken unserer demokratischen Werte. Das Stück regt sehr zum Nachdenken an und erzeugt Betroffenheit. Nach dem Anblick von vielen unangenehmen und erschreckend-echten Szenen des Stücks kann man nur hoffen, dass dieses dystopische Szenario bald nicht wirklich zur Realität wird.

Weitere Vorstellungen folgen am 14.03., 20.03., 27.03., 03.04. und 17.04.

Dieser Artikel erschien zuerst im Magazin des Kulturbüro Göttingen. Redaktionell verantwortlich sind das Kulturbüro Göttingen sowie dessen Autor:innen.
Verfasser:in

Keanu Demuth

Journalist und Autor beim Kulturbüro Göttingen

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