Das Wiedersehen mit dem langjährigen Chefdirigenten (von 2005 bis 2018) des Göttinger Symphonieorchesters (GSO) Christoph-Mathias Mueller geriet zu einem großen Erfolg. Ein Konzert mit unbekannten Werken unbekannter Komponisten ist meist ein Risko für den Veranstalter. Mit einer ausverkauften Stadthalle wurde dieser Mut belohnt.
Auf dem Programm standen die symphonische Dichtung »Skazka« (»Ein Märchen«) sowie das Konzert für Klavier und Orchester von Michael Nossyrew (1924–1981) und sie Symphonie Nr. 2 Es-Dur des finnischen Komponisten Leevi Madetoja (1887–1947).
Als Gast wurde der Pianist und ECHO Klassik-Preisträger Alexander Krichel eingeladen. Der 1989 geborene Krichel hatte zwei große russische Pianisten als Lehrer und ist daher der russischen Schule und der russischen Musik besonders nahe. Für die Aufführung des Klavierkonzertes von Michail Nossyrew kann man von einer Idealbesetzung sprechen.
Christoph-Mathias Mueller ist Professor und Fachleiter Orchesterdirigieren an der Zürcher Hochschule der Künste und künstlerischer Leiter der Murten Classic, einem renommierten Sommerfestivals im Kanton Fribourg, unweit von Bern.
Im Jahr 2020 wurde Mueller mit dem OPUS-Klassik Award für die beste sinfonische Einspielung ausgezeichnet. Schon in seiner Göttinger Zeit hatte er vor, das Orchesterwerk Alexander Vepriks mit dem GSO einzuspielen. Das hatte aus finanziellen Gründen nicht geklappt, es wurde dann mit dem BBC National Orchestra of Wales realisiert.
Das Aufspüren unbekannter, aber unbedingt hörenswerter Werke ist geradezu ein Spezialgebiet des 1969 geborenen Dirigenten. So ist die Programmauswahl für das Konzert in der Stadthalle kein Zufall. Für Christoph-Mathias Mueller war das Gastspiel der erste Besuch bei seinem früheren Orchester. Dieses bedankte sich mit einer großartigen Leistung.
Die Musiker:innen folgten jeder kleinen Nuance Muellers – und davon gab es reichlich. Die aufwühlende Musik des russischen Komponisten Michael Nossyrew enthält zahlreiche Extreme, von leisen, reduzierten Passagen bis hin zu gewaltigen, bedrohlich erscheinenden Ausbrüchen. Nossyrew wurde 1943 als 19jähriger verhaftet und zum Tod verurteilt. Das Urteil wurde kurze Zeit später in 10 Jahre Straflager umgewandelt. Im Gulag in Workuta eignete sich der Komponist autodidaktisch Kenntnisse in der Orchestrierung an. Er nutzte dafür ein Buch von Nikolai Rimski-Korsakow zur Instrumentationslehre.
Die sinfonische Dichtung »Skazka« komponierte Nossyrew in dieser Zeit. Geschickt verteilte er die Themen und Melodien in allen Stimmgruppen des Orchesters. Nur die Oboe (Matthias Weiss) sticht mit einem wunderschönen Solo hervor, begleitet von sphärenhaften Klängen der Streicher und der Harfe.
Im später entstandenen Klavierkonzert ist die Stimmung alles andere als märchenhaft. Hier scheint Nossyrew die Erfahrungen seiner Zeit im Straflager zu verarbeiten: düstere Stimmung, klagende Melodien, Momente der absoluten Einsamkeit und gewaltige Ausbrüche erzeugen eine beunruhigende Stimmung. Christoph-Mathias Mueller sorgte mit kluger Steuerung für eine große Transparenz und für große Spannungsbögen. Die Orchestermitglieder folgten ihm nicht nur präzise, sondern glänzten in allen Stimmgruppen mit technischer Perfektion, gepaart mit hoher Emotionalität. Hervorzuheben ist das Englischhorn (Carlos Lafarga), das Nossyrew mit einem besonders schönen Solo bedacht hat, sowie das Kontrafagott
Alexander Krichel war integraler Bestandteil des Ensembles, obwohl es lange Solopassagen für den Pianisten gab. Es war faszinierend, wie Krichel die Emotionen, die die Musik enthält, adaptierte und in sein Spiel umsetzte. Die großen Bögen, die Mueller für das Orchester vorgesehen hatte, nahm er in sein Spiel auf. Zu einer sich langsam immer weiter steigernden Passage sagte Alexander Krichel: „Das ist das längste Crescendo, das ich bislang gespielt habe“.
Die Musik Michail Nossyrew behandelt existentielle Themen. Wie die Beteiligten diese in ihrer Widergabe behandelten, sorge für Gänsehaut im ganzen Publikum. Davon wurde in der Pause vielfach im Foyer gesprochen. Wie schwierig es ist, nach dieser Musik eine Zugabe zu spielen, sprach Alexander Krichel. Er entschied sich für das Nocturne in cis-Moll von Frederic Chopin.
Nach der Pause ging es hoch in den Norden Finnlands: Leevi Madetoja stammt aus Oulu, einer Stadt am Bottnischen Meerbusen, knapp unterhalb des Polarkreises. Neben Jean Sibelius ist Madetoja der wichtigste Vertreter der finnischen Spätromantik. Allerdings konnte er sich nicht annähernd so erfolgreich durchsetzen wie sein berühmter Lehrer. Seine Musik ist aber auf jeden Fall eine Entdeckung wert. Madetoja wollte mit seiner zweiten Sinfonie eine Meditation über die Zukunft Finnlands nach dem Weltkrieg und der russischen Revolution schreiben. Nach dem Tod seines Bruders im April 1918 wurde die Tragödie Finnlands zu Madetojas eigener. Auch wenn Christoph-Mathias Mueller in seiner Anmoderation betonte, dass Finnen mit Trauer anders umgehen als andere, ist die Traurigkeit und Melancholie in der Musik Madetojas jederzeit zu spüren, auch bereits in der eher leicht erscheinenden Improvisation zu Beginn.
Die Mitglieder des GSO blieben hoch konzentriert.
Am Ende wollte der Applaus des Publikums kaum enden. Und auch durch die Gespräche hinterher wurde deutlich, dass der Beifall eine Mischung aus Applaus für die künstlerische Leistung und für die Freude des Wiedersehens mit Christoph-Mathias Mueller war – und eben auch ein Applaus aus Dankbarkeit für die Programmauswahl dieses denkwürdigen Abends.
Kommentare