Erstaunlich intimes Erlebnis

Helle Nacht-Konzert des Göttinger Symphonie-Orchesters

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Das Konzert beginnt in völliger Dunkelheit und Stille. Nur das Rauschen der Lüftung als dissonantes Störgeräusch ist hörbar. Dabei ist unklar, ob es zum ersten Stück gehört oder nur die Göttinger Lockhalle faucht und schnauft, um den Ansprüchen des Publikums an Komfort gerecht zu werden.

»Bioluminescence« heißt das erste Stück, das die Dirigentin Friederike Scheunchen und das Göttinger Symphonieorchester an diesem Abend spielen. Komponiert wurde es von Kristine Tjorgersen im Jahre 2017. Lichter beginnen zu flackern. Unregelmäßig und konfus. Unklar, ob sie einer bestimmten Logik oder einem Takt folgen. Sie sehen aus wie kleine Glühwürmchen kreischende Geigen gehen über in fallende Bässe, die als dunkle Karikatur wütender Maschinen keineswegs wohlige Nachtruhe erzeugen. Die Maschinerie des Orchesters bleibt nicht stehen. Sie pumpt und schnauft. Die Hydraulik jagt die Idylle aus den Rohren, die nur ganz verhalten versucht ein Gegengewicht zu erzeugen – gezupfte Geigen, aufmüpfig, zaghaft überfordern. Die Nacht ist nicht still. Vielleicht liegt es an der industriellen Robustheit der Lokhalle, warum die erste Assoziation eines Stückes, das durch die Formen und Klänge der Natur inspiriert wurde, artifiziell und industriell wirkt. Vielleicht ist das aber gerade der Effekt und der Kommentar: sind wir nicht alle nur Maschinen, die versuchen zu Leuchten und der Stille unsere eigene Unruhe entgegenstrecken. Die Nacht ist für die Tierwelt nicht stumm oder idyllisch, nicht romantisch verklärt und auch nicht. In der Dunkelheit ist Leben, im flackernden Licht der Glühwürmchen kriecht und flieht es, atmet und schreit es, die Nacht der Natur ist lebendig. Die Komponistin kommt auf die Bühne. Momente wie dieser machen dieses Konzert, bei dem die Komponist:innen anwesend sind, zu einem erstaunlich intimen Erlebnis.

Das gesamte Parkett rechts rückt aus. Der Universitätschor, eben noch im Publikum macht sich bereit für ihren Auftritt. Gleichzeitig wird das Orchester auf der Bühne erweitert. Das nächste Stück ist Claude Debussys »Trois Nocturnes«. Wir verlassen also die Nacht des 21. Jahrhunderts und reisen zurück in die Nacht von 1899. Hochzeit der Industrialisierung, der Dampfmaschinen und dem Hektischwerden der Großstadt, eine Zeit in der das „Nachtwerden“ vielleicht ähnlich erwartungsvoll von den Schwärmern und Empfindsamen erwartet wurde wie heute. Das Konzert erfährt an dieser Stelle seinen ersten, aber nicht letzten Stimmungswechsel. Beeinflusst von den impressionistischen, ebenfalls als „Nocturnes“ betitelten Bildern James Abott McNeill Wihstlers komponierte Debussy einen Meilenstein des Impressionismus in drei Sätzen, die sich nicht nur stylistisch, sondern auch in ihren Stimmungen konzeptionell voneinander unterscheiden. War »Bioluminescence« noch erfüllt von der Unruhe und dem Störungspotenzial nächtlicher Geräuschfantasien, seien sie auch biologisch, klanglich wie visuell, ergibt sich das Orchester nun der verklärten Phantasterei wohlig dämmernder Sommernächte. Ruhe und Harmonie herrschen vor im ersten Satz, der den Titel „Nuages“ (Wolken) trägt. Dissonanzen, zuvor in Fülle, sucht man nun vergebens. Seine Stimmung ist diffus undurchsichtig gar monochrom. Die Streicher wallen die Flöten antworten mit einem ruhigen Schwenk, die Oboen erzeugen fließende Bewegung, die an Wolken oder Wellen erinnern. In der Dämmerung sich langsam im Zwielicht annähernd, bis sie nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind. Die Bässe setzen ein, untermalen die Oboe mit einem Tremolo, dass eine Spannung im Zuhörenden erzeugt, die Streicher übernehmen die Melodie der Oboe, Flöte und Hörner melden sich nochmal und der Satz endet ruhig im Bass und leisen Pauken.

Im zweiten Satz verlassen wir die Dämmerungsszene der Natur und betreten den nächtlichen Tanz, das Menschliche wird Akteur, Tanz und Spiel, Jahrmarkt und Rummel. Der Mittelsatz trägt bezeichnend den Titel „Fêtes“ (Feiern). Die Blechbläser haben ihren großen Auftritt und bilden das Kernthema. Die Monochromie des ersten Satz wird hier farbenfroh. Die ausgezeichnete Beleuchtungstechnik spiegelt diesen Kontrast auch visuell wider. Der zweite Satz ist Goldgelb, wohingegen der erste Satz noch in fahles Blau getaucht war. Ein Lichtspiel, dass sich auch zum Schlusssatz verändern wird. „Sirénes“ führt zurück in die Nacht, übers Meer, Wellen im Mondesschein, hört man den Gesang der Sirenen herüberwehen. Der Frauenchor singt textlos, aber nicht stumm, nicht an uns gerichtet, nicht kommunikativ. Wir schauen diesem Schauspiel nur zufällig zu, sind Beobachter einer geheimnisvollen Nacht.

Bewegliche Klangbilder

In Debussys impressionistische Nachtverklärung schreibt Dimitri Remesov seine „Nachtschwärmer“-Stücke hinein, die an dieser Stelle uraufgeführt werden. Beide Sätze nehmen das Hauptthema aus Debussys dritten Satz auf, jedoch nicht als bloßes Zitat, sondern verfremdet, klanglich zerbrochen. Remesov spricht im Interview von einer „Translation als Glitch“. Debussys impressionistische Schwärmerei verbleibt als Ahnung einer Erinnerung und transferiert ihr Wissen um die Nacht in neue Klangassoziationen. Erfahrungen lassen sich in neue Formen übersetzen. Auf dem analogen Synthesizer findet Remesov Klangbilder wie das fast nicht hörbare Rauschen der Flügel des titelbildenden Nachtschwärmers. Der Titel ist also bewusst mehrdeutig. Zum einen beschreibt er das Bild der ausschwärmenden Schmetterlinge, zum anderen die feiermütigen Menschen auf ihrer aufregenden und ausgelassen Reise durch die schummrigen Clubs der modernen Großstadt. Die idyllische Verklärung Debussys weicht zunehmend einer nächtlichen Düsternis - das Paradox der modernen Clubszene - dem Glitch, dem Herr Remesov auf der Spur ist. Die Nacht ist unheilvoll und beängstigend, doch sie ist auch voll pulsierenden Leben. “In the dark you can find the light“, wie Dimitri Remesov es beschreibt. Der erste Satz von „Nachtschwärmer“ lässt noch märchenhafte Assoziationen zu. Die Blechbläser möchten etwas verkünden – Stille – die Streicher antworten und schwingen sich dann gemeinsam in raumfüllende, ekstatische Höhen – vielleicht ein Höhepunkt des Konzertabends. Die hervorragende Beleuchtung wechselt von gelb und violett zu grün. Während der erste Satz also noch das malerische, freundliche der klassischen Nocturne betrachtet, Pauken und Trompeten das Erhabene erzeugen, versetzt der zweite Satz die Nacht in die Sphäre des rauschhaften, urbanen Nachtlebens. Der Gleichklang von ausgelassenen Feiern und düsterem Zwielicht, das paradoxe Wechselspiel zeitgenössischer Clubkultur tritt hervor. Die Klangbilder sind nicht mehr statisch, sondern in Bewegung. Sie pulsieren, sie fliehen, Entfliehen dem hellen Tag. Man möchte sich verstecken, davonrennen und wird doch immer wieder von der Musik eingeholt, ein Katz-und-Mausspiel, dass sich derartig zuspitzt, dass in der finalen Stille einer Frau im Publikum ein „Oh mein Gott“ entflieht.

Die zweite Hälfte des Konzerts beginnt mit „Clear Night“ von Christian Mason. Frau Scheunchen und das Orchester haben sichtlich Spaß an diesem Stück und recken schließlich mit strahlenden Gesichtern die Bögen nach oben. Mason nimmt den Nachthimmel in den Blick und verknüpft Licht und Klang, blickt allerdings nicht in die unendliche Leere des Alls, sondern erzeugt Klangwelten scheiternder Sterne und expansiver, gewaltiger Kräfte: Akkorde blitzen auf und vergehen wie Sonnen, Planeten kreisen und Streicherkometen fliegen an uns vorbei. Kosmische Entstehungs- und Auslöschungsprozesse, das Chaos des Kosmos wird zu einem sich überlagernden Wechselspiel und bilden im scheinbar Chaotischen eine allweltliche Ordnung.

Aus den kosmischen Kinderstuben von Welten fernab unserer Lebenswirklichkeit, versetzt das folgende Klarinettenkonzert „Urban Nights“ von Lucia Kilger uns wieder in menschliche Sphären und gleichsam in detailliert, mikroskopisch betrachtete Klangräume. Als Solistin an der Klarinette spielt Boglárke Pecze. Das Konzert kann sicherlich als einer der Höhepunkte des Abends gelten und wird von Kurator Clemens K. Thomas auch entsprechend eingeführt. Das Stück wird mitgeschnitten und als Aufnahme auf einem Album von Frau Pecze veröffentlicht.

Boglárke Peczes Spiel ist an diesem Abend atemberaubend, mall schrill und extrovertiert, doch auch intim. Ein fragiles Innen wird durch das Orchester verstärkt und vergrößert. Es dehnt sich aus über das gesamte Orchester. Die elektronischen Teile, die Lucia Kilger wiederum aus den Klangfrequenzen des Orchesters erzeugt hat erzeugen künstliche Klangräume, die über das bloße Wechselspiel von Solistin und Orchester hinausgehen. „Urban Nights“ ist ein vielschichtiges Stück, indem elektronische und Orchestrale Klangfarben ineinandergreifen und sich mal resonant ergänzen, mal kontrastieren. Die drei Sätze gehen nahtlos ineinander über. Im Mittelsatz wird kein Metronom vorgegeben, sodass die Solistin Raum erhält ihre eigenen Zeiten zu finden und sich frei artikulieren kann. Anfangs spielt die Solistin gegen das Orchester doch entpuppt sich dieses Gegenspiel bald als Synergie, das intime der Solistin wird zur Intimität des gesamten Klangapparats. Das Stück spielt regelrecht mit der Erwartung und überrascht, jede neue Passage ist dadurch aufregend und bleibt im Gedächtnis. Wie auch Remesovs Nachtschwärmer rangiert das Stück zwischen Dunkelheit und Licht zwischen düsteren Technobeats und romantischem Orchesterklang.

Den Abschluss dieses abwechslungsreichen Konzertabends bildet Valentin Silvestrovs Abendserenade aus „Stille Musik“ aus dem Jahre 2002. Ein melancholisches neotonales Stück das den großen Pathos vermeidet und die Zuhörenden versöhnlich, wenn auch ein wenig unaufgeregt und unterfordert in die leuchtende Sommernacht verabschiedet.

Dieser Artikel erschien zuerst im Magazin des Kulturbüro Göttingen. Redaktionell verantwortlich sind das Kulturbüro Göttingen sowie dessen Autor:innen.
Verfasser:in

Niklas Foitzik

Journalist und Autor beim Kulturbüro Göttingen

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Im Artikel genannt

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Header Horizonte Festival vor abstraktem roten Hintergrund
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horizonte – Festival für zeitgenössische Musik

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