Andrea Petković durchbricht die Fassade

Der schwere Ausstieg aus dem Profisport

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Als professionelle Tennisspielerin muss man sich nach außen hin stark zeigen und vor der Welt sowie vor seinen Rivalinnen eine Fassade aufbauen. Diese Fassade durchbricht Andrea Petković in ihrem zweiten Buch »Zeit, sich aus dem Staub zu machen« und spricht offen und ehrlich über die Sinnkrise, die sie nach dem Austritt aus dem Leistungssport hatte. Tennis war ihre Identität und bestimmte ihr ganzes Leben, somit war es überhaupt nicht leicht, sich nach dem Rücktritt völlig neu erfinden zu müssen. Einen emotionalen Einblick in diese Identitätskrise und wie sie mit dieser zurechtgekommen ist verschaffte sie den vielen tennisbegeisterten Zuschauern am 06.04. bei der Göttinger Frühjahrslese in der Sheddachhalle. Dabei traf sie auf die Sportjournalistin und Fernsehmoderatorin Okka Gundel, die in Göttingen studiert hat.

Erreicht hat Andrea Petković in ihrer Karriere vieles: sie war die Nummer 9 der Welt, hat 7 WTA-Titel gewonnen und war 2014 im Halbfinale der French Open. Trotzdem spricht sie davon, viele Selbstzweifel gehabt zu haben und ihren Erwartungen nicht gerecht geworden zu sein - ihr Kindheitstraum war es, Grand Slams zu gewinnen und die Nummer 1 der Welt zu werden. Ihr Buch hat ihr aber dabei geholfen, zufriedener mit sich selbst und ihrer Tenniskarriere zu sein. Petković sagt, es sei sehr befreiend gewesen, in ihrem Buch so ehrlich sein und über ihre Gefühle sprechen zu können. Heute vermisst Andrea Petković zwar das große Publikum, den Wettkampf und den Druck bei großen Matches, welche neben dem frühen Aufstehen, dem Kraftraum und dem Training aber nur ein geringer Teil des Lebens als Tennisprofi waren.

„Der Zahn der Zeit ist hohl“ liest Petković aus ihrem Buch vor und wünscht sich, die Zeit manchmal anhalten zu können. Wenn der Alterungsprozess einsetzt, muss man dies als Leistungssportler akzeptieren und sein Spiel diesem anpassen, bald darauf folgt der unausweichliche Rücktritt. Zu akzeptieren, dass die körperliche Leistungsfähigkeit nachlässt, ist aber sehr schwierig, vor allem auch für die Perfektionistin Petković. Dabei betont sie, dass die Selbstleugnung eine wichtige Eigenschaft für Tennisspieler ist. Eine Welt, in der man als Teenager als die große Hoffnung gilt, mit Mitte 20 etabliert und mit Anfang 30 bereits Veteran ist, ist eine harte Welt. Lange bestimmt diese Welt ihr ganzes Leben, wie also bewältigt Petković das Ende dieses Lebensabschnitts?

Besserer Mensch, schlechteres Tennis

Zufälligerweise stieg Petković gleichzeitig wie ihr Tennisidol, der großen Rekordbrecherin Serena Williams, aus dem Profisport aus. Es war für sie sehr schwer, zur selben Zeit wie die erfolgreichste Tennisspielerin aller Zeiten aufzuhören, da sie umso mehr ihre unerreichten Ziele bedauerte und den Unterschied zwischen ihr und ihrem Idol noch stärker bemerkte. Sie erzählt uns dann aber von einem wichtigen Erlebnis, welches ihr zeigte, dass es normal ist, ihrem Leben als Tennisspielerin nachzutrauern und auch mal Schwäche zu zeigen: in der Umkleide begegnet sie Serena Williams, die offensichtlich auch trauert und genauso wie Petković schlaflose Nächte durchlebt. Diese Erkenntnis erleichterte ihr den Prozess des Loslassens und den Eintritt in einen neuen Lebensabschnitt, der nicht mehr vollständig vom Tennis bestimmt wird.

Nach ihrem Rücktritt nahm Petković sich zuerst ein Jahr, um sich voll auszuleben und um zu erkennen, was sie nun mit ihrem Leben machen möchte. Anfangs ernährt sie sich fast ausschließlich von Süßigkeiten, trank viel Alkohol und sie sagte zu allem „Ja!“, eine rebellische Haltung ihrem zuvor voll durchstrukturierten Lebensstil gegenüber. Zuvor bestimmte das Tennis ihr ganzes Leben, wie sie schlief, aß und ihren kompletten Tag gestaltete und somit wollte sie ihre neugewonnene Freiheit voll und ganz auskosten. Heute beschreibt Petković sich selbst als einen besseren Menschen, aber eine schlechtere Tennisspielerin, denn Tennisprofis müssen rücksichtslos und egoistisch sein. Nach ihrem „wilden“ Jahr hat sie jetzt ihre Stärken neben dem Tennis herausgefunden und ist Expertin im Fernsehen, Kolumnistin und Autorin. Einen erfolgreichen Auftakt hatte sie mit ihrem ersten Buch »Zwischen Ruhm und Ehre liegt die Nacht« und auch in ihrem zweiten Buch »Zeit, sich aus dem Staub zu machen« beweist sie ihr schriftstellerisches Talent. In Zukunft plant sie außerdem, fiktionale Bücher zu schreiben.

Obwohl das Thema des Rücktritts aus dem Leistungssport ein eher bedrückendes ist und Petković dem Publikum ihre Sinnkrise auch sehr offen und gefühlvoll näherbringen konnte, hat sie es auch hervorragend geschafft, das Publikum mit ihrem ausgezeichneten Humor mehrmals zum Lachen zu bringen. Humorvoll sagt sie anfangs: „heute bringe ich die Stimmung runter“. Somit war die Lesung nicht nur sehr offen und ehrlich, sondern auch äußerst witzig und unterhaltsam. Offensichtlich hat Andrea Petković nicht nur ein großes Talent im Tennis, sondern vor allem auch im Schreiben und Unterhalten.

Dieser Artikel erschien zuerst im Magazin des Kulturbüro Göttingen. Redaktionell verantwortlich sind das Kulturbüro Göttingen sowie dessen Autor:innen.
Verfasser:in

Alina Hagen

Journalistin und Autorin beim Kulturbüro Göttingen

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