Ein Mord beschäftigt die Menschen in Rosdorf: In der Neujahrsnacht 1990/91 musste Alexander Selchow sterben. Auf offener Straße wurde der 21-jährige Rosdorfer mit einem Messer so schwer verletzt, dass er starb. 30 Jahre später wollen RosdorferInnen, die ihn und den Mord nicht vergessen können, dafür sorgen, dass alle sich erinnern. In einer Rosdorfer Erklärung fordern sie, dass der Mord als politisches Verbrechen anerkannt werde. Einen Erinnerungsweg zum Gedenken hat eine Arbeitsgruppe entwickelt.
Julia Roesler ist eine von denen, die diesen Mord nicht vergessen können. Als er passierte, war sie elf Jahre alt. Ihr Bruder sei mit „Alex“ befreundet gewesen. In der Silvesternacht sei der „Grufti“ von einem rechtsextremen Skinhead ermordet worden. Der Mord habe sie und ihre Familie sehr aufgewühlt, erinnert sich Roesler. In einem kleinen Ort wie Rosdorf sei jeder betroffen.
So hatte Roesler die Idee, ein lebendiges Gedenken an Alexander Selchow für alle in Rosdorf zu unterstützen. Mitinitiator ist Markus Müller. Beide gehören zum „Bündnis 90 / Die Grünen“. Um für ihre Idee eine Grundlage zu schaffen, hätten die Grünen im Rosdorfer Gemeinderat einen Antrag zur Realisierung eines Gedenkprojekts gestellt. Denn allen sei klar gewesen, dass ein Gedenkstein oder eine Straßenbenennung nicht reichen werde, um die Erinnerung an den Mord an Alexander Selchow wach zu halten.
Der Göttinger Karsten Knigge, der eine Zeitlang in Rosdorf lebte, wurde mit der Umsetzung beauftragt. Knigge plant auch das Gedenken für Conny Wessmann, die 1989 in Göttingen ums Leben kam. Die 24-jährige Studentin aus einer Antifa-Gruppe war in Folge einer Auseinandersetzung mit rechtsextremen Skinheads Opfer eines Verkehrsunfalls geworden.
Müller beklagt: Der Mord an Selchow sei in Rosdorf nie aufgearbeitet worden. Weil das Problem längst nicht gelöst sei, wünscht sich Müller entschiedeneres Vorgehen gegen Rechte. Roesler beschreibt die rechte Bewegung als längst nicht mehr so aktiv wie damals. Dennoch ist sie überzeugt: An der Einstellung der Menschen habe sich in Wahrheit nichts geändert. Sie kritisiert, dass der Mord entpolitisiert worden sei. In Gesprächen mit einem guten Freund von Selchow sei für sie unzweifelhaft klar geworden, dass der Mord eine politische Tat war.
Bereits im Juni verabschiedete eine Arbeitsgruppe, bestehend aus VertreterInnen aller im Ortsrat vertretenen Gruppen und Parteien die Rosdorfer Erklärung. Sie fordert die Einstufung des Mordes als rechtsextreme Tat. Es wurden Unterschriften gesammelt, Orts- und Gemeinderat unterstützten die Erklärung einstimmig. Auch die Landtagskandidatinnen von CDU, Grünen und SPD versprachen, sich für die Forderung einzusetzen. Die Erklärung kann weiterhin online unter www.alexander-selchow.de gezeichnet werden.
Selchow sei Antifaschist gewesen. „Er war ein Grufti“, schildert Roesler. Ihrer Auskunft nach war Selchows Vater Italiener. Das habe man dem Sohn aber nicht angesehen. Vielmehr habe sein Äußeres als Grufti für die Täter wohl zum Feindbild beigetragen. In der Mordnacht sei er auf dem Weg zu seiner Großmutter gewesen. Er habe ihr noch ein gutes neues Jahr wünschen wollen. Angeblich habe er sich am Tag vor dem Mord mit dem Täter, seinem Mitbewohner, gestritten. Er habe keinen Hehl daraus gemacht, dass er die Neonazis nicht möge.
Die damaligen Täter kamen laut Knigge aus Netzwerken von Neonazis, die noch heute aktiv und maßgeblich für zahlreiche Gewalttaten im Landkreis Göttingen verantwortlich seien. So sei der damals zur gleichen Neonazi-Gruppe wie die Täter gehörende Torsten Heise heute einer der führenden Naziaktivisten in Deutschland und laut Verfassungsschutzbericht dem rechtsterroristischen Spektrum zuzuordnen. Die erschütternde Zahl von fast 200 durch RechtsextremistInnen getöteten Menschen seit 1990 in Deutschland zeige, wie wichtig es sei, klare Signale der Ablehnung von rassistischem und nazistischem Gedankengut in die Gesellschaft zu senden, heißt es in der Pressemitteilung zur Eröffnung des Erinnerungswegs.
Markus Müller erinnert sich, dass die Stimmung in Rosdorf damals sehr aufgeheizt war. Viele Menschen hätten gelernt, sich zu wehren gegen alles, was von links kam. In rechten Gruppen habe der Glaube geherrscht, dass sie gesellschaftlichen Rückhalt hätten. Die Polizei sei eher passiv geblieben. Karsten Knigge gibt zu bedenken, dass die Gesellschaft sich in der Zeit der Wiedervereinigung in einen fast nationalistischen Taumel befand. Skinheads seien ganz offen aufgetreten.
„Wir wollen einen Anlass schaffen, damit die BewohnerInnen des Dorfes sich austauschen können“, nennt Julia Roesler als Ziel. Jeder habe die Situation nach dem Mord mit sich selbst ausmachen müssen. Viele hätten in Folge des Mordes viele Jahre unter Angst gelitten. Ihnen wie allen BewohnerInnen des Dorfes wolle man nun auf einem Weg mit zehn Stationen Raum für Gespräche, für den offenen Austausch bieten.
Mit Inhalt gefüllt wurden die Stationen von AbiturientInnen, erzählt Knigge. Sie hätten die Interviews geführt mit Menschen, die für Alexander Selchow und den Hergang des Mordes wichtig waren, gefilmt, den Ton geschnitten, das Material für den Gedenkpfad aufbereitet. So entstanden zehn Filme mit bis zu 20 Minuten Länge. Die Interviews sind Teil des Erinnerungswegs durch Rosdorf und per QR-Code an 10 Orten mit dem Handy abrufbar.
Die richtigen Stationen zu finden war laut Knigge Teil der Auftaktveranstaltung im Frühjahr dieses Jahres. Neben dem Ort, wo der Mord passierte, sind zum Beispiel auch die Bushaltestelle vor Selchows Wohnhaus, das Gemeindezentrum, der alte Friedhof Stationen des Gedenkpfads für Selchow. Am 20.11.2022 um 14 Uhr soll der Erinnerungsweg am Rosdorfer Familienzentrum, Anne-Frank-Weg 2, eröffnet werden.
Das Projekt ist Teil der „Partnerschaft für Demokratie im Landkreis Göttingen“, gefördert vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) im Rahmen des Bundesprogramms „Demokratie leben!“. Weitere Mittel stammen vom Ortsrat Rosdorf, der Gemeinde Rosdorf und vom Landschaftsverband Südniedersachsen. Weitere Informationen: www.alexander-selchow.de
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