All die Fremden kommen dorthin, denn nur dort, ja, nur dort zwischen den Nicht-dazu-Gehörenden fühlen sie sich zugehörig.
Manchmal scheinen sie zu verblassen, die Spuren der Vergangenheit. Manche Menschen würden sie sogar sehr gern verdrängen und einen Schlussstrich ziehen. Doch ganz verschwinden werden diese Spuren niemals. Sie können überall sichtbar werden, sogar in den vier Wänden, in denen man lebt. Eine junge israelische Violinistin, die in Amsterdam wohnt, findet einen Brief vor ihrer Haustür. Es handelt sich um eine seit 1944 unbeglichene Gasrechnung. Die Frau versucht, den eigentlichen Adressaten und die Umstände der unbezahlten Rechnung ausfindig zu machen. Ihr Nachbar Jan scheint mehr zu wissen, als er zugibt, aber reden will er nicht. Hat er ihr den Brief vor die Tür gelegt? Die Suche gestaltet sich ebenso komplex wie geheimnisvoll und konfrontiert die Protagonistin einerseits mit den historischen Ereignissen, die sich in ihrem Wohnhaus zur NS-Zeit zugetragen haben, und andererseits mit ihrer eigenen Identität und Herkunft. Im Laufe ihrer Nachforschungen fühlt sich die junge Frau zunehmend fremd in ihrer Umgebung, die durchaus feindselig auf die Konfrontation mit der Vergangenheit reagiert. Die Gesellschaft in Amsterdam scheint weltoffen und multikulturell zu sein, doch warum spürt sie im Supermarkt plötzlich die misstrauischen Blicke und nimmt wahr, dass sie anders behandelt wird als andere Kund*innen?
Maya Arad Yasur lässt in »Amsterdam« viele Stimmen sprechen, die auf die Protagonistin einwirken, ihre Suche voranbringen, Spuren aufdecken und auch verwischen. Was ist damals passiert und wie wirkt das damals Passierte auf heute? Die Vielstimmigkeit löst sich vom Einzelnen und verweist auf die Gesamtgesellschaft. Die Autorin schlägt einen spannenden Bogen von der Vergangenheit in die Gegenwart und befragt auf kritische wie poetische Weise, wie Geschichtsschreibung entsteht und wer die Hoheit über diese hat. Erinnerung ist schließlich immer auch Fiktion. Wer bestimmt diese Narrative der Erinnerung und woran wir uns als Gesellschaft erinnern? Yasur verweist bestimmt, aber auch mit subtilem Humor auf blinde Flecken der Gesellschaft in Zusammenhang mit der Aufarbeitung unserer Geschichte. Sind wir so offen, wie wir denken, und dürfen wir den Anspruch verfolgen, die Vergangenheit bewältigen zu können?
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