Standing Ovation, Tränen und Poesie. Das Ensemble um Lilian Laeticia Haack raubt dem Publikum den Atem und schenkt ihm dafür emotionale Unausweichlichkeit, den intimen und wortgewaltigen Einblick in die Vielschichtigkeit von Krankheit im Familiensystem und nicht zuletzt zweieinhalb Stunden Tuchfühlung mit zwei komplexen Schwesternfiguren. Ein Amateurtheatererlebnis, das mit seiner überragenden Komposition die Grenzen zum etablierten Theater meisterhaft sprengt.
Die von Lilian Haack selbstgeschriebene dramaturgische Fassung von »Was fehlt, wenn ich verschwunden bin« (Lilly Lindner) erzählt die Geschichte der zwei Schwestern Phoebe (9) und April (16), die an Magersucht erkrankt ist. April ist aufgrund ihrer Erkrankung stationär in einer Klinik aufgenommen und Phoebe schreibt ihr unnachgiebig Briefe. Auch April schreibt für Phoebe, doch ihre Briefe sollen Phoebe nie erreichen.
Haack war es in ihrer Adaption wichtig, das Innenleben der Schwestern und auch der Eltern eindrücklich darzustellen. Das Publikum erlebt die dynamischen und detailreich ausgearbeiteten Charaktere, die bezaubern, verletzen und verzweifeln lassen. Die Darstellerinnen* haben diesen dichten Rollen herausragend standgehalten. Sie performen stringent, authentisch und auf den Punkt.
In der Umsetzung bedeutet das, dass die beiden Schwestern durch jeweils fünf Schauspielerinnen* dargestellt werden, die performativ die komplementären und brausenden Emotionen, Gedanken und Bedürfnisse der Familie nachfühlbar machen.
Poetische Schlagkraft und Finesse
Als maßgebliche Requisite nutzen die Schauspielerinnen* Licht, Musik und das sachte Bühnenbild, das nur aus weißen Vorhängen mit langen Schleppen besteht. Die Darstellung entwickelt sich anhand kreativer, gebärdender und expressiver choreographischer Elemente, die durch artikulierte Rollenspiele eine intensive Dynamik erhalten. Zu sehen sind in der ersten Hälfte nur die fünf Phoebe’s, die in wunderschönen, interessanten, erschreckenden und sinnstiftenden Figuren zu einem greifbaren Ganzen verschmelzen.
Ein immersives Erlebnis, das herausfordert, sich aufrichtig auf die Komplexität dieser Neunjährigen einzulassen. Mit einer poetischen Schlagkraft und Finesse zeichnete Lilly Lindner mit ihrer Phoebe ein Kind, das mit allen kindlichen Emotionen und Traummalereien, doch eigentlich nur verstehen und selbst verstanden werden will. Ein Mädchen, das ganz viel Liebe, Zukunftsmut und Philosophie verkörpert und doch gleichzeitig einfach nur Kind gelassen werden sollte.
Auch April als große Schwester zeigt sich, schwerst von ihrer Krankheit gezeichnet, doch immer noch in der liebevollen, weisen und lebensklugen Art, mit der sie Phoebe die Geborgenheit schenkt, die ihr selbst verwehrt wurde. Aus der poetischen Darbietung destillieren sich zentrale Botschaften, die Haack sichtbar machen wollte: Magersucht ist eine ernsthafte Krankheit. Eine erkrankte Person, bedeutet ein ganzes erkranktes Familiensystem. Es gibt Hilfen für Betroffene (in Kooperation mit dem Stück: KIBIS Göttingen, Psychosoziale Beratung, Ambulante Hilfe bei Essstörungen – Frauenberatung Göttingen). Es ist absolut entscheidend für die mentale Gesundheit von Kindern, dass sie von ihren Eltern gehört und in ihrem Ausdruck unterstützt werden. Zuhören und Nachfragen, verstehen wollen. Denn Worte sind gewaltig.
»Was fehlt, wenn ich verschwunden bin« wirft in diesem Zusammenhang die Frage auf: „Was fehlt, wenn ich verloren wurde?“ Tiefsinnig und berührend glimmt das Stück noch lange nach.
Eine wirklich außerordentliche Leistung aller Beteiligten und ein nachhaltiges Theatererlebnis für alle, die das Glück haben noch einen Platz im ThOP zu ergattern!
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