Ein heruntergekommenes Apartment im finsteren Teil von Chinatown in Manhattan, New York City. In dieser tristen Szenerie ladet Brigid Blake (Anika Bittner) und ihr Freund Richard (Jakob Jockers) die Familie zu Thanksgiving ein. Zu Gast in dem bescheidenen Apartment sind Vater Erik Blake (sehr eindrucksvoll gespielt von René Anders), die lustige Mutter Deirdre (Lisa Tyroller), Schwester Aimee (Myrtha Dorothee Werner) und die an Alzheimer erkrankte Großmutter und Eriks Mom Momo (Sibille Rigler).
In dieser 90-minütigen Veranstaltung erleben die Zuschauer:innen eine Achterbahn der Gefühle. Die Darsteller:innen liefern sich Wortgefechte, die zunächst eher lustig und liebevoll sind, dann mal kämpferisch, und letztlich richtig emotional und verletzend werden. Die Chemie zwischen den Schauspielerinnen und Schauspielern stimmt richtig gut. Das Schauspiel wirkt auf erschreckende Weise sehr echt und natürlich, sodass man beinahe meinen könnte, hier sitzt wirklich die Familie Blake! Lisa Tyroller verkörpert die nörgelnde Mutter, die etwas zu tief ins Weinglas geschaut hat und so für den ein oder anderen Lacher sorgt. Sie isst mit vollem Mund meckert an der „Höhlen“-Wohnung, was Tochter Brigid Blake aka Anika Bittner natürlich nervt. Jakob Jockers ist daneben der verständliche Schwiegersohn, während Myrtha Dorothee Werner die von Liebeskummer und einer Darmerkrankung geplagte Schwester spielt. Sibille Rigler gibt ebenfalls eine beeindruckende Performance ab, sie murmelt ständig irgendwas vor sich hin und schafft es so, glaubwürdig die erkrankte Momo zu spielen. René Anders als einfacher und doch fürsorglicher Vater Erik stiehlt schließlich allen die Show! Bei sehr emotionalen Szenen fließen Tränen aus seinen Augen und machen »The Humans« wortwörtlich menschlich und authentisch!
Alle Familienmitglieder versuchen, ein harmonisches Thanksgiving miteinander zu verbringen. Alltagsdialoge wie „was hast du gestern im TV geschaut“, „wie läufst im Studium“ oder „wovon hast du gestern Nacht geträumt“ sind die großen Stärken des Stücks. Der scheinbar harmonische Besuch wird aber immer wieder gestört von lautem Lärm: Die Nachbarin oben macht ständig krach, man hört die Müllpresse oder die Waschmaschinen im ganzen Haus. Die lauten Geräusche, die plötzlich auf der Bühne erzeugt werden, machen die inszenierte Lesung sehr immersiv und stellen ziemlich gut das „Heruntergekommene“ an der Wohnung dar.
Achtung, Spoiler!
Das große Drama lässt aber nicht lang auf sich warten und die Masken fallen. Freund Richard gibt offen zu, dass er Depressionen hatte und deshalb sein Studium für eine gewisse Zeit unterbrechen musste. Die Eltern haben viele Schulden angehäuft und ihr Grundstück am See verloren. Schwester Aimee spielt ihre Darmentzündung ständig runter, bis sie es doch endlich ihren Eltern beichtet. Und dazu ist Pflege für die an Demenz erkrankte Mutter Momo natürlich eine große psychische Belastung, was sehr real und rührend von dem gesamten Ensemble dargestellt wird.
Richtig emotional wird es schließlich bei der Thanksgiving-Rede: Erik schafft es nicht, den Abschiedsbrief von seiner Mutter Momo vorzulesen, sodass Ehefrau Deirdre es für ihn übernehmen muss. Als Deidre-Darstellerin Lisa Tyroller anfängt vorzulesen, steht die Darstellerin von Momo, Sibille Rigler, plötzlich auf und trägt selbst ihre Abschiedsworte vor. Hier präsentiert Rigler die vielleicht emotionalste Szene des Stücks. Da sie sonst als Demenzerkrankte Momo nur unsinnige Worte vor sich hinspricht und auf einmal gefühlvoll mit ihren Enkelkindern redet und sie anfängt zu streicheln, wirkt die Szene sehr ergreifend und schon gar transzendent oder geisterhaft.
Hier folgen Spoiler, die den überaus gelungenen Finalakt beschreiben: Zum Ende hin wird es deutlich, dass Vater Erik Blake an starken Angstzuständen leidet. Wortwörtlich unter Tränen erzählt Erik-Darsteller René Anders, wie er die verbrannte Frauenleiche in den Armen eines Feuerwehrmanns gesehen hat. Man kauft es Anders richtig ab, dass er Angst um seine Töchter hat und von diesem beängstigenden Anblick Albträume bekommt. Anders lebhafte Beschreibung von dem traumatischen Erlebnis und seinen Albträumen reicht allein schon aus, um für beängstigende Blicke bei den Zuschauer:innen zu sorgen. Explizierte Bilder sind hier nicht notwendig.
Die angsteinflößende Stimmung erreicht schließlich ihren Höhepunkt: Erik ist allein im Raum und die Glühbirnen in der heruntergekommenen Wohnung geben ihren Geist auf. Die Bühnenbeleuchtung ist ausgegangen. René Adlers steht nun ganz allein da völlig verängstigt, nur mit einer Laterne in der Hand auf der pechschwarzen Bühne. Nervös schreitet er mit seiner Laterne langsam voran zum Treppengang, aus welchem ein grelles, rotes Höllenlicht kommt. Zusammen mit der lebendigen Erzählung von Andreas Hey wird hier eine richtig nervenaufreibende Szene gezeigt, die glatt aus einem Gruselfilm stammen könnte. Nachdem er das angsteinjagende Quietschen eines Kleiderrollwagens hört, nimmt er dennoch allen Mut zusammen und schreitet in das rote Höllenfeuer. Damit lässt er alle Zuschauer:innen schockiert und sprachlos aber gleichzeitig auch nachdenklich aus den Rängen des ThOP treten. Einfach eine sehr starke und atmosphärische Szene!
Drama pur! Der siebenköpfige Cast um Erzähler Andreas Hey bringt hier ein Stück auf die Bühne, welches vor allem mit natürlichen Dialogen und Interaktionen zwischen den Darstellern, sowie emotionsgeladenen Szenen zu überzeugen weiß. Das Ensemble schafft es auf authentische Weise, das Menschliche in »The Humans« zu verkörpern! Die realistischen Alltagsszenen machen betroffen und gleichzeitig kann man sich richtig gut mit den Darsteller:innen identifizieren.
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